Wedekind, Frank,
Der Kammersänger. Drei Szenen. 6.-10. Tausend. München: Müller, 1920. 48 Seiten, Fraktursatz. Broschur. 195 x 136 mm. 61 g
* Gebräunt.
Bestell-Nr.159152
Wedekind |
Deutsche Literatur |
Theatertexte
Vorwort
»Der Kammersänger« ist weder eine Hanswurstiade noch ein
Konversationsstück, sondern der Zusammenstoß zwischen einer brutalen Intelligenz und verschiedenen blinden Leidenschaften. Wenn
er so gespielt wird, ergibt sich weder die Notwendigkeit, die Hälfte
des Textes wegzustreichen, noch diejenige, den Schluß in alberner
Weise umzuändern. Ich möchte auch die Gelegenheit wahrnehmen,
um mich gegen die Behauptung zu Verwahren, daß jene Änderung
des Schlusses von mir herrührte. Eines Tages erhielt ich aus Berlin folgendes Telegramm:
»Bitten um Erlaubnis, Schluß Von Kammersänger abändern zu dürfen, da sonst genötigt, Stück vom Spielplan abzusetzen.«
Da ich gerade wegen einer Lungenentzündung zu Bett lag und
mir die Ausführungen des Stückes deshalb ziemlich wichtig waren,
telegraphierte ich zurück: »Mit allem einverstanden.« Ich selber
aber habe den abgeänderten Schluß weder gesehen noch gelesen.
Ich kenne ihn nur vom Hörensagen. Dagegen habe ich manche andere Aufführung vom »Kammersänger« gesehen, in der ich mich
allerdings ganz verblüfft fragte, aus welchem Beweggrund ich denn
eigentlich eine so kraft- und saftlose Posse geschrieben haben könnte.
Die Brutalität meines Kammersängers war in Albernheit, seine Intelligenz war in das entgegengesetzte Gegenteil, in eine übernatürliche Dummheit verkehrt. Und jeder Gedanke, um dessentwillen ich das Stück zu Papier gebracht hatte, war mit unerbittlicher schauspielerischer Routine weggestrichen, so daß Helene Marowa zweifellos mehr verdreht als verliebt erschien, wenn sie sich eines solchen Laffen wegen das Leben nahm.
Ich möchte nun diese Gelegenheit auch noch dazu wahrnehmen, —
um gegen jeden, auch den geringsten Strich in diesem Stücke ausdrücklich zu protestieren, auch auf die Gefahr hin, daß der »Kammersänger« daraufhin für alle Zeiten von der deutschen Bühne
verschwindet.
Sollte sich aber trotz dieses Protestes noch ein Darsteller für
meinen Gerardo interessieren, dann will ich ihm hier verraten,
was zu dessen Verkörperung nötig ist: Tempo, Leidenschaftlichkeit und Intelligenz, drei Eigenschaften, die noch keinem
Berufsschauspieler zur Schande gereicht haben.
München, im Juli 1909.
Frank Wedekind.