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Willenbacher .:. Deutsche Fluesterwitze
156542
Willenbacher, Jörg [Hrsg.], Deutsche Flüsterwitze. Das Dritte Reich unterm Brennglas. Karlsbad 1935.
Temporarily closed
Nov 13-28, 2024
Description
Willenbacher, Jörg [Hrsg.],
Deutsche Flüsterwitze. Das Dritte Reich unterm Brennglas. Karlsbad: Verlagsanstalt "Graphia", 1935. 82 Seiten. Broschur. Grossoktav.
* Braunes Deutschland, Bilder aus dem Dritten Reich, Nr. 2. - Gebräunt und knitterig, Umschlag fleckig und mit kleinen Rissen, das hintere Deckblatt fehlt.
Bestell-Nr.156542
Willenbacher | Antifaschismus | Drittes Reich | Humor | Witze
EINLEITUNG
Die Polizeidirektion Gotha weist darauf hin, daß jeder, der sich herabwürdigende Aeußerungen über die Mitglieder der Regierung oder über Führer der nationalsozialistischen Bewegung in Form sogenannter Witze erlaube, gerichtliche Bestrafung zu gewärtigen habe. (Deutsche Pressenotiz.)
Es wird erzählt, Göring habe seinem Kammerdiener für jeden neuen Lamettawitz, den er durch ihn erfahre, fünf Mark Belohnung ausgesetzt. Im übrigen mache sich der Ministergeneral ein besonderes Vergnügen daraus, die auf ihn gemünzten Witze und Anekdoten in Abendgesellschaften zum Besten zu geben.
Welch schöne Lesebuchlegende! Doch wer glaubt die brave Mär?! Wer ahnte nicht, daß sie der eitle Sammler von Uniformen, Orden und Menschenköpfen absichtlich verbreiten läßt, um zu verbergen, wie empfindlich weh ihn die bitterbösen Lamettawitze berühren. Nein, die humorlosen Emporkömmlinge, die jetzt in Deutschland Staatsmänner spielen dürfen, pflegen nicht über Witze zulachen, die ihrer Gottähnlichkeit so gefährlich sind. Im Gegenteil, sie fürchten den Volkswitz und verfolgen seine Verbreiter! Nicht umsonst ging der sonst so abgebrühte Reichspropagandaminister in einer im Oktober 1934 gehaltenen Rede, wie der »Berliner Lokalanzeiger« berichtete, scharf mit gewissen Brunnenvergiftern zu Gericht, die auf dem Wege über sogenannte Witzeleien, ihre Zersetzungstätigkeit auszuüben suchen. In jedem einzelnen Falle sei es Pflicht des Pg., gegen diese Art von Brunnenvergiftung mit aller Energie »Front zu machen.«
Ja, sie fürchten die »Witzeleien«, weil der Witz gegen das Dritte Reich wie ein scharfer Pfeil ist, den die verfolgte Wahrheit abschießt, ein Pfeil, der mit tödlicher Sicherheit Seifenblasen und Achillesfersen zu treffen versteht. Sie fürchten ihn, weil er ihre Aufgeblasenheit, ihre Nichtigkeit, ihre Unfähigkeit, ihre Verlogenheit und ihre kalibanisch-kannibalische Gesinnung zu entlarven imstande ist. Die braunen Häuptlinge geben für solch einen Witz nicht fünf Mark, sondern »fünf Monate«. Das heißt: wenn damit die Straftaxe der Sondergerichte nicht zu niedrig angegeben ist. Sie haben sogar schon ein Jahr Gefängnis und mehr für die »Weitererzählung eines üblen Witzes« ausgezahlt. Das kommt auch in der stereotypen Bemessung zum Ausdruck, mit der heute der »Volksgenosse« einen frisch mitgeteilten politischen Witz zu taxieren pflegt: »Der ist sechs Monate wert!« oder »Das ist einer für’n Jahr'!« Wie man daraus entnehmen kann, funktioniert die Arbeitsteilung des braunen Machtsystems in Bezug auf die Witze so gut, wie in Bezug auf die Meinungsfreiheit der Presse. In der Art nämlich, daß der Reichspropagandaminister die Schriftleiter animiert, eine Meinung zu haben — derjenige aber, welcher sie zu haben wagt, ins Konzentrationslager fliegt... . Beim »Alten Fritz« war es, trotz der anders lautenden Anekdoten in Volksschulbüchern, ähnlich so.
Ach, wenn die braunen Gewalthaber statt seiner Verbreiter den Volkswitz selbst fangen, einsperren, »auf der Flucht erschießen« könnten! Aber so wenig er gleichzuschalten ist, so wenig ist er einzusperren. Unsichtbar und schnell wie ein Tausendfüßler, der an jedem Fuße Siebenmeilenstiefel trägt, eilt der politische Volkswitz durch die Massen der Städte und Dörfer. Keine drei Tage vergehen,und ganz Deutschland kennt den neuesten Witz wider das Dritte Reich.
Wenn zwei Menschen auf der Straße beisammen stehen und lachen auf, so runzelt wohl der vorbeistolzierende Amtswalter die Stirn und denkt: Die haben einen Witz über mich und meinesgleichen erzählt! Und er hat recht. Was sonst noch sollte in diesem gespenstischen Deutschland von heute zum Lachen reizen, es sei denn ein Witz gegen die Fronvögte?! »Volksgemeinschaft« — so lautet eines der abgegriffensten und verlogensten Schlagworte des Hitlerreichs.Volksgemeinschaft gibt es dort eigentlich nur im Zeichen des —Antinaziwitzes. Ihm allein ist es gegeben, die Klassenschranken zu überspringen und alie Volksgenossen im Banne seiner Lachwirkung zu vereinen. Beim Proleten der Betriebe und Stempelstellen erweckter dasselbe grimmige Behagen wie beim Bauern im Dorfkrug; der kleine Beamte nimmt den ätzenden Witz, der ihm im Amt zugeflüstert wird, genau so amüsiert auf, wie der Adelige im Herrenklub. Ob evangelisch, katholisch, kommunistisch, sozialistisch, revolutionär, konservativ, agrarisch, proletarisch, monarchistisch oder sonstwie gesinnt: sie alle beugen sich, kaum daß sie den Witz mit dem Ohr aufgenommen haben, zum Ohr des Nachbarn, ihn diesem weiterzuflüstern.
Der Witz findet überall offene Türen, auch in den Polizeikasernen Görings und in den Offizierskasinos der Reichswehr. Nicht zuletzt in den Reihen der braunen Legionäre selbst. Wie manche Lachsalve, von Lamettawitzen hervorgerufen, hat schon die Heime der SA und der HJ erschüttert! Doch keineswegs nur in die »linken« Kreise der nationalsozialistischen Bewegung findet der politische Witz des Volkes freien Eingang. Viele brauntapezierte Redaktionsstuben und Amtswalterstammtische wären mit Leichtigkeit in der Lage, jene Reichstagsbrandwitze zu liefern, die in dieser Sammlung fehlen.
Warum lachen braune Amtswalter so verständnisinnig über Witze, die Göring bezichtigen, den Reichstag selbst angesteckt zuhaben? Weil sich die Pappenheimer gegenseitig kennen und wissen, was sie einander zutrauen können! Sie lachen das Gelächter vielwissender Komplicen, die es sich glauben leisten zu können, Selbstbezichtigung zu treiben, indem sie die Witze ihrer Todfeinde goutieren. Aber der politische Witz ist kein Spielzeug; er ist eine Waffe, und darum freuen sich Deutschlands Antifaschisten, wenn sie beobachten, daß sich die Braunen, mit den Waffen ihrer Feinde spielend, die Hände verletzen. Es ist schon so: die Flüsterwitze unterminieren das Ansehen der Machthaber in Deutschland — sie zersetzen den Führerglauben bei den Legionen des Feindes. Er hat das trojanische Pferd in seiner Festung, und morgen werden gepanzerte Männer aus seinem Innern herausspringen!
Seltsam — in den vielgeschmähten »vierzehn Jahren der Schmach und Schande« merkte man kaum etwas von einem volksgeborenen Witz gegen die Republik. Vielleicht, weil es der »nationalen Opposition« allzu gut ging. Wer mit Hilfe von Zeitungen, Flugblättern, Broschüren, Versammlungen, Demonstrationen und Privatarmeen den Staat aushöhlen darf, spürt das Bedürfnis nicht, mit dem Florett des politischen Witzes zu fechten. Politische Volkswitze von der Art, die dieses Wort verdienen, entstehen wohl auch nur in einem tatsächlich unterdrückten und gefesselten Volk, das sich in seiner Machtlosigkeit der List der Schlangen bedienen muß. Die Republik der »vierzehn Jahre« war jedoch lediglich in Hitlers Propaganda, nicht in der Wirklichkeit ein volkunterdrückendes Unwesen. Darum hauptsächlich fehlte es in den »vierzehn Jahren« an einem Gegenstück zum Volkswitz von heute. Es reichte einzig und aliein zur nationalsozialistischen »Brennessel«, dieser armseligen Nachahmung des »Simplizissimus«, und zu den plattblöden Judenwitzen eines Julius Streicher.
Erst als sich das »Dritte Reich« auf Deutschland wälzte, schoß die politische Satire aus dem Erdreich des Volkes und versuchte, die auf ihm lastende Decke der Lüge und Knechtschaft zu sprengen. Die Umstände erlaubten der Satire nicht, den Zeichenstift zu gebrauchen, um wie Daumier wider König »Birnex mit der Karikatur gegen das Dritte Reich zu kämpfen. Die Zeitungen, die der politischen Karikatur Raum geboten hätten, waren verboten, und der »Simplizissimus«, einst herrlicher Kämpe wider das wilhelminische Zeitalter und gegen faschistische Barbarei, kroch, statt in Ehren unterzugehen, den neuen Machthabern, sagen wir, in den Kanal Götz von Berlichingens. Die politische Satire des unterdrückten Volkes blieb daher im Dritten Reich auf den Wortwitz beschränkt. Ungeahnte Verbreitungsmöglichkeiten waren ihm gegeben. Da das Volk nämlich nicht die Zeitungen lesen durfte, die es selber wollte, gab es in wachsendem Maße das Lesen gedruckter Blätter, insofern es nicht illegale oder ausländische waren, ganz auf und schuf sich an ihrer Stelle die gesprochene Zeitung. Von ihr behauptete neulich jemand in vollem Recht, daß sie das beliebteste Organ des Volkes und interessanter sei als sämtliche dreitausend Zeitungen des Reichspropagandaministeriums zusammen genommen. In den beliebig ausdehnbaren Raum dieser Zeitung, die niemand verbieten und niemand korrumpieren kann, teilen sich das Gerücht und der Witz. Das Gerücht bietet Tatsachen und Reportagen. Der Witz aber rückt von »unterm Strich« und aus der Harmlosigkeitsecke der Unterhaltungsbeilagen auf die erste Seite, sozusagen die Funktion des Leitartikels übernehmend. Er schreibt den Ereignissen im Dritten Reich die Kommentare, er formuliert das Volksurteil über die braunen Regierungskünste.
Nein, ausdrucks- und erfindungsarm ist er nicht, der Antinaziwitz! Er verfügt über eine reiche Skala von Tönen und Schärfen. Oft vermag er mit einem Satz die verwickeltste und undurchsichtigste Sache bis auf den Grund zu erhellen. Von den Trägern seiner Meinung — der Logenschließerin, dem Petrus, dem Moses, dem lieben Gott, dem Ausländer, den Kölnern Tünnes und Schäl, der Katze, dem Hund, dem Esel, der Kuh usw. — läßt sich mit dem Dichtersagen: »O du, Kindermund, unbewußter Weisheit froh ... .< Schneidend klare, unerhört treffsichere und einprägsame Formulierungen über alle Zweige des braunen Totalitätsstaates entspringen seinem Geist und wandern unvergessen durch das Volk. Wo der politische Witz auftaucht, weicht Göbbels Nebel, dringt die Sonne der Wahrheit durch. Der Volkswitz ist es, der nicht zuletzt den Massen der deutschen Bevölkerung geholfen hat, sich der Suggestionskraft der faschistischen Hypnotiseure zu entziehen und ihren gesunden, kritischen Menschenverstand wieder anwenden zu lernen.
Die Frage liegt auf der Zunge: Wie entstehen Deutschlands geflüsterte Witze? Nun, Witzfabriken gibt es nicht, auch nicht in der Emigration. Mag hin und wieder ein Witz vom Ausland her nach Deutschland dringen und dort als »echt« und »richtig« befunden in der gesprochenen Zeitung Aufnahme finden — er stellt doch nur einen Ausnahmefall dar. Die große Mehrzahl der politischen Witze Deutschlands sind nachgewiesenermaßen bodenständig und heimatberechtigt. Von einer ziemlich umfangreichen Gruppe weniger politischer Witze als vielmehr politisch gefärbter Zoten über den »Bund deutscher Mädchen« kann zweifelsfrei festgestellt werden, daß ihre Autoren unter den männerbündlerisch gesonnenen Lästerern der SA zu finden sind. Aus Geschmacksgründen haben wir es verschmäht, BdM.-Witze in dieses Buch aufzunehmen. Was den wesentlichen politischen Witz aber betrifft, so möge man sich mit der Erklärung begnügen, die Manfred im »Neuen Vorwärts« über seine Entstehung gegeben hat: »Er entsteht in der Luft zwischen den Menschen. Er kristallisiert als Niederschlag der Atmosphäre wie die Rauhreifnadeln an kahlen Zweigen. Seine Anonymität gibt ihm symptomatische Bedeutung als knapp gesammelter Ausdruck übereinstimmender Meinungen. Und diese Uebereinstimmung macht ihn geflügeit. Er wird nicht nur kolportiert — er wird überall sofort verstanden. Er ist das Chiffretelegramm der Gleichgesinnten: Wir verstehen uns!«
Der politische Witz ist, sagten wir, eine Notwaffe des deutschen Volkes in seiner derzeitigen Ohnmacht — eine Waffe, die den Glauben des Feindes an seine »Ideen« und seine Götzen zerstören hilft und der Desillusionierung dient, die jeder wahren Neubesinnung vorauszugehen hat. Die deutsche Entscheidungsschlacht wird selbstverständlich mit gewichtigeren Waffen ausgetragen werden müssen.
Wir hielten es für keine unwichtige Beschäftigung, Deutschlands Flüsterwitze zu sammeln, um sie in Buchform der Oeffentlichkeit darzubieten. Der Zeitgenosse wird gewiß mit Interesse durch dieses Brennglas auf die deutsche Gegenwart sehen. Doch auch den künftigen Betrachter deutscher Wahn- und Fieberzeit wird vielleicht diese Sammlung wesentlich dünken im Sinne des Fontanewortes,wonach oft in einer Anekdote mehr Historie stecke, als in dicken Geschichtsbüchern.
Die meisten der hier gesammelten Witze haben wir in Deutschland selbst vernommen. Wir hielten sie in der Fassung fest, in der sie unserem Ohr auf ihrer Wanderung begegneten. Es braucht wohl — nebenbei bemerkt — nicht ausführlich erklärt zu werden, warum politische Witze auf ihren mannigfaltigen Wegen genau so in verschiedenen Variationen auftauchen wie auf einer anderen Ebene die anonymen Volkslieder des Mittelalters.
Andere fanden wir in den Situationsberichten, die dem Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Prag regelmäßig aus allen Provinzen des Dritten Reiches zugeleitet werden. Bezeichnenderweise teilen die illegalen Berichterstatter sehr häufig die aktuellen, im Umlauf befindlichen Witze mit, weil diese oft besser als lange Ausführungen die Volksstimmung auszudrücken geeignet sind. Viele Witze entnahmen wir auch illegalen deutschen Zeitungen und den Blättern der Emigration, vornehmlich dem »Neuen Vorwärts«, der »Deutschen Freiheit« und dem »Simpl«.
JÖRG WILLENBACHER.
INHALT
EINLEITUNG 3
»BRENNENDES GEHEIMNIS« 8
DER GROSSVATER DER »NATIONALEN REVOLUTION« 10
DER BRAUNEN WOLLE GEFÄRBT 13
HEILAND DER TEUTONEN 14
DER DEUTSCHE GRUSS 16
DER GEIST DES SYSTEMS 18
LAMETTAHERMANN 20
DER NACHGEDUNKELTE SCHRUMPFGERMANE ODER WOTANS MICKYMAUS 24
STABSCHEF RöHM, DER HINTERLADER 28
»NEUADEL AUS BLUT UND SCHOLLE« 29
RUND UM DEN ARIERPARAGRAPHEN 33
DAS NICHTARISCHE KIND 37
VOM JUDENBOYKOTT 38
»DIE JUDEN SIND AN ALLEM SCHULD!« 39
VOLKSGENOSSE, KONZENTRATIONSLAGER DICH! 42
JUSTIZ MIT HAKENKREUZSTEMPEL 45
MIESMACHEREI 46
WAS ABKÜRZUNGEN BEDEUTEN 53
DER TIERSCHUTZ DER MENSCHENJÄGER 53
AM EINTOPFSONNTAG 54
WIRTSCHAFT VERKRACHT — DEVISEN IM »SCHACHT« 56
ARBEITSSCHLACHTEN WIE NOCH NIE! 59
»KRAFT DURCH FREUDE« 61
GEBRÄUNTE BLÄTTER 63
RUNDSTUNK UBERN RUNDFUNK 64
DER NORDISCHE KULTURWART 65
BÜCHER IM DRITTEN REICH 66
FLIMMERWAND, GLEICHGESCHALTET 67
THEATER? — THEATER! 67
JESUS FÄLLT UNTER DIE »DEUTSCHEN CHRISTEN« 68
DEUTSCHE »AUSSENPOLITIK« 69
DER HOFFNUNGSVOLLE NACHWUCHS 70
VOLK IM DRECK - BONZEN IM SPECK 71
SA MARSCHIERT - SA MECKERT 73
DIE NIBELUNGEN, III. TEIL 76
WER DIE WAHL HAT, HAT DIE QUAL 78
DEM REICHSFÜHRER INS STAMMBUCH 79
DEN DOLCH IM GEWANDE 79
WENN DER VORHANG FÄLLT 80
Der liebe Gott verlieh dem deutschen Volke drei Eigenschaften: Klugheit, Ehrlichkeit und Nationalsozialismus. Aber nicht alle drei zusammen, sondern immer nur zwei Eigenschaften sind beim einzelnen Deutschen zu finden.
Der Deutsche ist entweder klug und Nationalsozialist. Dann ist er nicht ehrlich.
Oder er ist ehrlich und Nationalsozialist. Dann ist er nicht klug.
Oder er ist klug und ehrlich. Dann ist er nicht Nationalsozialist.
Deutsche Flüsterwitze. Das Dritte Reich unterm Brennglas. Karlsbad: Verlagsanstalt "Graphia", 1935. 82 Seiten. Broschur. Grossoktav.
* Braunes Deutschland, Bilder aus dem Dritten Reich, Nr. 2. - Gebräunt und knitterig, Umschlag fleckig und mit kleinen Rissen, das hintere Deckblatt fehlt.
Bestell-Nr.156542
Willenbacher | Antifaschismus | Drittes Reich | Humor | Witze
EINLEITUNG
Die Polizeidirektion Gotha weist darauf hin, daß jeder, der sich herabwürdigende Aeußerungen über die Mitglieder der Regierung oder über Führer der nationalsozialistischen Bewegung in Form sogenannter Witze erlaube, gerichtliche Bestrafung zu gewärtigen habe. (Deutsche Pressenotiz.)
Es wird erzählt, Göring habe seinem Kammerdiener für jeden neuen Lamettawitz, den er durch ihn erfahre, fünf Mark Belohnung ausgesetzt. Im übrigen mache sich der Ministergeneral ein besonderes Vergnügen daraus, die auf ihn gemünzten Witze und Anekdoten in Abendgesellschaften zum Besten zu geben.
Welch schöne Lesebuchlegende! Doch wer glaubt die brave Mär?! Wer ahnte nicht, daß sie der eitle Sammler von Uniformen, Orden und Menschenköpfen absichtlich verbreiten läßt, um zu verbergen, wie empfindlich weh ihn die bitterbösen Lamettawitze berühren. Nein, die humorlosen Emporkömmlinge, die jetzt in Deutschland Staatsmänner spielen dürfen, pflegen nicht über Witze zulachen, die ihrer Gottähnlichkeit so gefährlich sind. Im Gegenteil, sie fürchten den Volkswitz und verfolgen seine Verbreiter! Nicht umsonst ging der sonst so abgebrühte Reichspropagandaminister in einer im Oktober 1934 gehaltenen Rede, wie der »Berliner Lokalanzeiger« berichtete, scharf mit gewissen Brunnenvergiftern zu Gericht, die auf dem Wege über sogenannte Witzeleien, ihre Zersetzungstätigkeit auszuüben suchen. In jedem einzelnen Falle sei es Pflicht des Pg., gegen diese Art von Brunnenvergiftung mit aller Energie »Front zu machen.«
Ja, sie fürchten die »Witzeleien«, weil der Witz gegen das Dritte Reich wie ein scharfer Pfeil ist, den die verfolgte Wahrheit abschießt, ein Pfeil, der mit tödlicher Sicherheit Seifenblasen und Achillesfersen zu treffen versteht. Sie fürchten ihn, weil er ihre Aufgeblasenheit, ihre Nichtigkeit, ihre Unfähigkeit, ihre Verlogenheit und ihre kalibanisch-kannibalische Gesinnung zu entlarven imstande ist. Die braunen Häuptlinge geben für solch einen Witz nicht fünf Mark, sondern »fünf Monate«. Das heißt: wenn damit die Straftaxe der Sondergerichte nicht zu niedrig angegeben ist. Sie haben sogar schon ein Jahr Gefängnis und mehr für die »Weitererzählung eines üblen Witzes« ausgezahlt. Das kommt auch in der stereotypen Bemessung zum Ausdruck, mit der heute der »Volksgenosse« einen frisch mitgeteilten politischen Witz zu taxieren pflegt: »Der ist sechs Monate wert!« oder »Das ist einer für’n Jahr'!« Wie man daraus entnehmen kann, funktioniert die Arbeitsteilung des braunen Machtsystems in Bezug auf die Witze so gut, wie in Bezug auf die Meinungsfreiheit der Presse. In der Art nämlich, daß der Reichspropagandaminister die Schriftleiter animiert, eine Meinung zu haben — derjenige aber, welcher sie zu haben wagt, ins Konzentrationslager fliegt... . Beim »Alten Fritz« war es, trotz der anders lautenden Anekdoten in Volksschulbüchern, ähnlich so.
Ach, wenn die braunen Gewalthaber statt seiner Verbreiter den Volkswitz selbst fangen, einsperren, »auf der Flucht erschießen« könnten! Aber so wenig er gleichzuschalten ist, so wenig ist er einzusperren. Unsichtbar und schnell wie ein Tausendfüßler, der an jedem Fuße Siebenmeilenstiefel trägt, eilt der politische Volkswitz durch die Massen der Städte und Dörfer. Keine drei Tage vergehen,und ganz Deutschland kennt den neuesten Witz wider das Dritte Reich.
Wenn zwei Menschen auf der Straße beisammen stehen und lachen auf, so runzelt wohl der vorbeistolzierende Amtswalter die Stirn und denkt: Die haben einen Witz über mich und meinesgleichen erzählt! Und er hat recht. Was sonst noch sollte in diesem gespenstischen Deutschland von heute zum Lachen reizen, es sei denn ein Witz gegen die Fronvögte?! »Volksgemeinschaft« — so lautet eines der abgegriffensten und verlogensten Schlagworte des Hitlerreichs.Volksgemeinschaft gibt es dort eigentlich nur im Zeichen des —Antinaziwitzes. Ihm allein ist es gegeben, die Klassenschranken zu überspringen und alie Volksgenossen im Banne seiner Lachwirkung zu vereinen. Beim Proleten der Betriebe und Stempelstellen erweckter dasselbe grimmige Behagen wie beim Bauern im Dorfkrug; der kleine Beamte nimmt den ätzenden Witz, der ihm im Amt zugeflüstert wird, genau so amüsiert auf, wie der Adelige im Herrenklub. Ob evangelisch, katholisch, kommunistisch, sozialistisch, revolutionär, konservativ, agrarisch, proletarisch, monarchistisch oder sonstwie gesinnt: sie alle beugen sich, kaum daß sie den Witz mit dem Ohr aufgenommen haben, zum Ohr des Nachbarn, ihn diesem weiterzuflüstern.
Der Witz findet überall offene Türen, auch in den Polizeikasernen Görings und in den Offizierskasinos der Reichswehr. Nicht zuletzt in den Reihen der braunen Legionäre selbst. Wie manche Lachsalve, von Lamettawitzen hervorgerufen, hat schon die Heime der SA und der HJ erschüttert! Doch keineswegs nur in die »linken« Kreise der nationalsozialistischen Bewegung findet der politische Witz des Volkes freien Eingang. Viele brauntapezierte Redaktionsstuben und Amtswalterstammtische wären mit Leichtigkeit in der Lage, jene Reichstagsbrandwitze zu liefern, die in dieser Sammlung fehlen.
Warum lachen braune Amtswalter so verständnisinnig über Witze, die Göring bezichtigen, den Reichstag selbst angesteckt zuhaben? Weil sich die Pappenheimer gegenseitig kennen und wissen, was sie einander zutrauen können! Sie lachen das Gelächter vielwissender Komplicen, die es sich glauben leisten zu können, Selbstbezichtigung zu treiben, indem sie die Witze ihrer Todfeinde goutieren. Aber der politische Witz ist kein Spielzeug; er ist eine Waffe, und darum freuen sich Deutschlands Antifaschisten, wenn sie beobachten, daß sich die Braunen, mit den Waffen ihrer Feinde spielend, die Hände verletzen. Es ist schon so: die Flüsterwitze unterminieren das Ansehen der Machthaber in Deutschland — sie zersetzen den Führerglauben bei den Legionen des Feindes. Er hat das trojanische Pferd in seiner Festung, und morgen werden gepanzerte Männer aus seinem Innern herausspringen!
Seltsam — in den vielgeschmähten »vierzehn Jahren der Schmach und Schande« merkte man kaum etwas von einem volksgeborenen Witz gegen die Republik. Vielleicht, weil es der »nationalen Opposition« allzu gut ging. Wer mit Hilfe von Zeitungen, Flugblättern, Broschüren, Versammlungen, Demonstrationen und Privatarmeen den Staat aushöhlen darf, spürt das Bedürfnis nicht, mit dem Florett des politischen Witzes zu fechten. Politische Volkswitze von der Art, die dieses Wort verdienen, entstehen wohl auch nur in einem tatsächlich unterdrückten und gefesselten Volk, das sich in seiner Machtlosigkeit der List der Schlangen bedienen muß. Die Republik der »vierzehn Jahre« war jedoch lediglich in Hitlers Propaganda, nicht in der Wirklichkeit ein volkunterdrückendes Unwesen. Darum hauptsächlich fehlte es in den »vierzehn Jahren« an einem Gegenstück zum Volkswitz von heute. Es reichte einzig und aliein zur nationalsozialistischen »Brennessel«, dieser armseligen Nachahmung des »Simplizissimus«, und zu den plattblöden Judenwitzen eines Julius Streicher.
Erst als sich das »Dritte Reich« auf Deutschland wälzte, schoß die politische Satire aus dem Erdreich des Volkes und versuchte, die auf ihm lastende Decke der Lüge und Knechtschaft zu sprengen. Die Umstände erlaubten der Satire nicht, den Zeichenstift zu gebrauchen, um wie Daumier wider König »Birnex mit der Karikatur gegen das Dritte Reich zu kämpfen. Die Zeitungen, die der politischen Karikatur Raum geboten hätten, waren verboten, und der »Simplizissimus«, einst herrlicher Kämpe wider das wilhelminische Zeitalter und gegen faschistische Barbarei, kroch, statt in Ehren unterzugehen, den neuen Machthabern, sagen wir, in den Kanal Götz von Berlichingens. Die politische Satire des unterdrückten Volkes blieb daher im Dritten Reich auf den Wortwitz beschränkt. Ungeahnte Verbreitungsmöglichkeiten waren ihm gegeben. Da das Volk nämlich nicht die Zeitungen lesen durfte, die es selber wollte, gab es in wachsendem Maße das Lesen gedruckter Blätter, insofern es nicht illegale oder ausländische waren, ganz auf und schuf sich an ihrer Stelle die gesprochene Zeitung. Von ihr behauptete neulich jemand in vollem Recht, daß sie das beliebteste Organ des Volkes und interessanter sei als sämtliche dreitausend Zeitungen des Reichspropagandaministeriums zusammen genommen. In den beliebig ausdehnbaren Raum dieser Zeitung, die niemand verbieten und niemand korrumpieren kann, teilen sich das Gerücht und der Witz. Das Gerücht bietet Tatsachen und Reportagen. Der Witz aber rückt von »unterm Strich« und aus der Harmlosigkeitsecke der Unterhaltungsbeilagen auf die erste Seite, sozusagen die Funktion des Leitartikels übernehmend. Er schreibt den Ereignissen im Dritten Reich die Kommentare, er formuliert das Volksurteil über die braunen Regierungskünste.
Nein, ausdrucks- und erfindungsarm ist er nicht, der Antinaziwitz! Er verfügt über eine reiche Skala von Tönen und Schärfen. Oft vermag er mit einem Satz die verwickeltste und undurchsichtigste Sache bis auf den Grund zu erhellen. Von den Trägern seiner Meinung — der Logenschließerin, dem Petrus, dem Moses, dem lieben Gott, dem Ausländer, den Kölnern Tünnes und Schäl, der Katze, dem Hund, dem Esel, der Kuh usw. — läßt sich mit dem Dichtersagen: »O du, Kindermund, unbewußter Weisheit froh ... .< Schneidend klare, unerhört treffsichere und einprägsame Formulierungen über alle Zweige des braunen Totalitätsstaates entspringen seinem Geist und wandern unvergessen durch das Volk. Wo der politische Witz auftaucht, weicht Göbbels Nebel, dringt die Sonne der Wahrheit durch. Der Volkswitz ist es, der nicht zuletzt den Massen der deutschen Bevölkerung geholfen hat, sich der Suggestionskraft der faschistischen Hypnotiseure zu entziehen und ihren gesunden, kritischen Menschenverstand wieder anwenden zu lernen.
Die Frage liegt auf der Zunge: Wie entstehen Deutschlands geflüsterte Witze? Nun, Witzfabriken gibt es nicht, auch nicht in der Emigration. Mag hin und wieder ein Witz vom Ausland her nach Deutschland dringen und dort als »echt« und »richtig« befunden in der gesprochenen Zeitung Aufnahme finden — er stellt doch nur einen Ausnahmefall dar. Die große Mehrzahl der politischen Witze Deutschlands sind nachgewiesenermaßen bodenständig und heimatberechtigt. Von einer ziemlich umfangreichen Gruppe weniger politischer Witze als vielmehr politisch gefärbter Zoten über den »Bund deutscher Mädchen« kann zweifelsfrei festgestellt werden, daß ihre Autoren unter den männerbündlerisch gesonnenen Lästerern der SA zu finden sind. Aus Geschmacksgründen haben wir es verschmäht, BdM.-Witze in dieses Buch aufzunehmen. Was den wesentlichen politischen Witz aber betrifft, so möge man sich mit der Erklärung begnügen, die Manfred im »Neuen Vorwärts« über seine Entstehung gegeben hat: »Er entsteht in der Luft zwischen den Menschen. Er kristallisiert als Niederschlag der Atmosphäre wie die Rauhreifnadeln an kahlen Zweigen. Seine Anonymität gibt ihm symptomatische Bedeutung als knapp gesammelter Ausdruck übereinstimmender Meinungen. Und diese Uebereinstimmung macht ihn geflügeit. Er wird nicht nur kolportiert — er wird überall sofort verstanden. Er ist das Chiffretelegramm der Gleichgesinnten: Wir verstehen uns!«
Der politische Witz ist, sagten wir, eine Notwaffe des deutschen Volkes in seiner derzeitigen Ohnmacht — eine Waffe, die den Glauben des Feindes an seine »Ideen« und seine Götzen zerstören hilft und der Desillusionierung dient, die jeder wahren Neubesinnung vorauszugehen hat. Die deutsche Entscheidungsschlacht wird selbstverständlich mit gewichtigeren Waffen ausgetragen werden müssen.
Wir hielten es für keine unwichtige Beschäftigung, Deutschlands Flüsterwitze zu sammeln, um sie in Buchform der Oeffentlichkeit darzubieten. Der Zeitgenosse wird gewiß mit Interesse durch dieses Brennglas auf die deutsche Gegenwart sehen. Doch auch den künftigen Betrachter deutscher Wahn- und Fieberzeit wird vielleicht diese Sammlung wesentlich dünken im Sinne des Fontanewortes,wonach oft in einer Anekdote mehr Historie stecke, als in dicken Geschichtsbüchern.
Die meisten der hier gesammelten Witze haben wir in Deutschland selbst vernommen. Wir hielten sie in der Fassung fest, in der sie unserem Ohr auf ihrer Wanderung begegneten. Es braucht wohl — nebenbei bemerkt — nicht ausführlich erklärt zu werden, warum politische Witze auf ihren mannigfaltigen Wegen genau so in verschiedenen Variationen auftauchen wie auf einer anderen Ebene die anonymen Volkslieder des Mittelalters.
Andere fanden wir in den Situationsberichten, die dem Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Prag regelmäßig aus allen Provinzen des Dritten Reiches zugeleitet werden. Bezeichnenderweise teilen die illegalen Berichterstatter sehr häufig die aktuellen, im Umlauf befindlichen Witze mit, weil diese oft besser als lange Ausführungen die Volksstimmung auszudrücken geeignet sind. Viele Witze entnahmen wir auch illegalen deutschen Zeitungen und den Blättern der Emigration, vornehmlich dem »Neuen Vorwärts«, der »Deutschen Freiheit« und dem »Simpl«.
JÖRG WILLENBACHER.
INHALT
EINLEITUNG 3
»BRENNENDES GEHEIMNIS« 8
DER GROSSVATER DER »NATIONALEN REVOLUTION« 10
DER BRAUNEN WOLLE GEFÄRBT 13
HEILAND DER TEUTONEN 14
DER DEUTSCHE GRUSS 16
DER GEIST DES SYSTEMS 18
LAMETTAHERMANN 20
DER NACHGEDUNKELTE SCHRUMPFGERMANE ODER WOTANS MICKYMAUS 24
STABSCHEF RöHM, DER HINTERLADER 28
»NEUADEL AUS BLUT UND SCHOLLE« 29
RUND UM DEN ARIERPARAGRAPHEN 33
DAS NICHTARISCHE KIND 37
VOM JUDENBOYKOTT 38
»DIE JUDEN SIND AN ALLEM SCHULD!« 39
VOLKSGENOSSE, KONZENTRATIONSLAGER DICH! 42
JUSTIZ MIT HAKENKREUZSTEMPEL 45
MIESMACHEREI 46
WAS ABKÜRZUNGEN BEDEUTEN 53
DER TIERSCHUTZ DER MENSCHENJÄGER 53
AM EINTOPFSONNTAG 54
WIRTSCHAFT VERKRACHT — DEVISEN IM »SCHACHT« 56
ARBEITSSCHLACHTEN WIE NOCH NIE! 59
»KRAFT DURCH FREUDE« 61
GEBRÄUNTE BLÄTTER 63
RUNDSTUNK UBERN RUNDFUNK 64
DER NORDISCHE KULTURWART 65
BÜCHER IM DRITTEN REICH 66
FLIMMERWAND, GLEICHGESCHALTET 67
THEATER? — THEATER! 67
JESUS FÄLLT UNTER DIE »DEUTSCHEN CHRISTEN« 68
DEUTSCHE »AUSSENPOLITIK« 69
DER HOFFNUNGSVOLLE NACHWUCHS 70
VOLK IM DRECK - BONZEN IM SPECK 71
SA MARSCHIERT - SA MECKERT 73
DIE NIBELUNGEN, III. TEIL 76
WER DIE WAHL HAT, HAT DIE QUAL 78
DEM REICHSFÜHRER INS STAMMBUCH 79
DEN DOLCH IM GEWANDE 79
WENN DER VORHANG FÄLLT 80
Der liebe Gott verlieh dem deutschen Volke drei Eigenschaften: Klugheit, Ehrlichkeit und Nationalsozialismus. Aber nicht alle drei zusammen, sondern immer nur zwei Eigenschaften sind beim einzelnen Deutschen zu finden.
Der Deutsche ist entweder klug und Nationalsozialist. Dann ist er nicht ehrlich.
Oder er ist ehrlich und Nationalsozialist. Dann ist er nicht klug.
Oder er ist klug und ehrlich. Dann ist er nicht Nationalsozialist.
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