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Burren .:. Dr Schtammgascht

158377
Burren, Ernst, Dr Schtammgascht. Erzählung. Gümligen 1977.
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13.-28. November 2024

Beschreibung
Burren, Ernst,
Dr Schtammgascht. Erzählung. 3. Auflage. Gümligen: Zytglogge-Verlag, 1977. 120 Seiten. Klappenbroschur. 210 x 130 mm. 193 g
* Leicht gebräunt.
Bestell-Nr.158377 | ISBN: 3-7296-0050-8
Burren | Schweizer Mundartliteratur | Literatur Deutschschweiz | Mundart

Derart gross und zugleich versteckt, zurückgenommen wie in diesem neuen Text war das Gefälle in Burrens Sätzen vielleicht noch nie.
Da ist ihre Oberfläche: die harmlose Struktur der Alltagssprache, eine leicht senile Geschwätzigkeit, kleinbürgerliche Zugänglichkeit und Umgänglichkeit, clichehaftes Schwadronieren, Rezept und Gemeinplatz. Sprache, die scheinbar niemandem etwas zuleide tut; unverdächtig — und mit ihr ist es der, der sie spricht: der Stammgast, Dorfpolitiker, Spaziergänger, besorgte Grossvater und Bürger, der Hobbygärtner. «i ha immer lieber / die offene Mönsche gha / settig wo öppis verzöue / vo sich»; «i ha nie niemer verletzt» —solche Sätze sind nicht untergeschoben, sondern abgehört, der Abhörer ist verschwiegen und verweigert jede Stellungnahme dazu, das Zeitgenossentum, das der Stammgast verkörpert, scheint von exemplarischer Unauffälligkeit zu sein. Eine Art überlegenes Wohlwollen stellt sich ein — der alte Mann verströmt so etwas wie Anständigkeit, wenn er zugibt, seine Frau vernachlässigt zu haben und ihr vor ihrem Tod eine Reise nach Paris ermöglicht, wenn er einsieht, dass nicht alles zum Besten bestellt ist im Land, wenn er den Einzelgänger am Wirtshaustisch an den Stammtisch einladen möchte, wenn er sein unablässiges Engagement der Wirklichkeit gegenüber formuliert, bieder und schlicht, vertraueneinflössend.
Dabei könnte es bleiben, wenn Burren nicht neben seine Verschwiegenheit auch eine nie nachlassende Aufmerksamkeit treten liesse, neben den Willen, sich nicht einzuschalten, denjenigen, nichts auszulassen. Sein gnadenloses Zu, Mithören deckt die Tiefenstruktur der Sätze auf und ein — nie zur Sprache gebrachtes — Leiden an ihnen. Auf einmal fällt ein ungemütliches Scheinwerferlicht auf sie. «mager isch er / aber suber»; «eigentlich isch s e sümpatische Tip» — Anerkennung wird eine Form von Diskriminierung, ganz leise und ungewollt, aber Sätze wie diese enthalten in Wirklichkeit alle anderen, brutaleren, fast nie geäusserten Sätze: «anschtatt dass me / so öpper / ad Wang schtöut».
Die liebevolle Neugierde, womit der Stammgast den Fremden, der allein an einem Tisch sitzt, betrachtet, ist das Einkreisen beim Verhör. Verhaltensregeln werden aufgestellt — «aber dä het sech / haut apasst / üsi Schbroch glehrt» wer sich ihnen nicht fügt, hat keine Chancen in der Gesellschaft, als deren Sprecher sich der Stammgast versteht. Die Vollständigkeit von Burrens sprachlicher Bestandesaufnahme ergibt Leitmotive einer Existenz: die Diffamierung alles Fremden, parallel dazu eine gefährlich dumme Sicherheit in Bezug auf das, was rechte Schweizerart ist. Gedankengänge von erschreckender Logik sind nachzuvollziehen: im Jahr der Frau sollten besonders viele Mädchen am Volksschiessen teilnehmen — auch in Friedenszeiten sollte die Schweiz einen General haben, der dem Volk zeigt, wie man aus der Krise herauskommt. Die Rezession genügt nicht, um ein Volk zur Besinnung auf seine Werte zu bringen, es braucht einen Krieg — die Deutschen sind nicht sympathisch, aber sie «wüsse ebe, was Kampf isch.» Krieg, Kampf, Lebenskampf, Marx, Lenin, Kommunisten — für den Stammgast sind alle Wörter gleich unproblematisch, sie zu reflektieren, ist er nicht bereit, weil Denken ohnehin verdächtig ist: «es wärdi vüu z vüu / dänkt / uf dr Wäut.» Sein soziales Empfinden beschränkt sich auf Bekannte, und seine geistige Entwicklung besteht darin, dass er nach jahrzehntelanger Stimmabgabe für die Freisinnigen erstmals die nationale Aktion wählt.
Erst in ihrer Tiefenstruktur setzen sich die Sätze zusammen: zum Phänomen des alltäglichen Faschismus, dessen gemütliche Fassade leicht über die Ungeheuerlichkeit dahinter hinwegtäuscht. Der Qualtingersche «Herr Karl» am Fusse des Weissensteins — dass er Burren dort auffällt, obwohl er sich unter der Tarnfarbe der Alltäglichkeit ganz unscheinbar in seine Landschaft und Zeit duckt, ist ein Zeichen für schriftstellerische Unbestechlichkeit. Burren versteht zu Recht die vor lauter Vertrautheit harmlos gewordenen Attribute als alarmierende Symptome.
Heinz F. Schafroth

Ernst Burren, 1944 geboren im solothurnischen Oberdorf, Seminar in Solothurn, jetzt Lehrer in Bettlach.
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